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Corona: Wir sollten auf die „Betonplatte“ Lockdown dringend verzichten

Die Stimmung im deutschen Mittelstand könnte schlechter kaum sein: In einer aktuellen Blitzumfrage unter 1.600 Mitgliedern des Bundesverbands mittelständische Wirtschaft e.V. (BVMW) sprechen sich fast 60 Prozent der Unternehmer und Selbständigen gegen eine Verlängerung des Lockdowns über Mitte Februar hinaus aus, nur rund ein Drittel ist dafür. Es überrascht daher nicht, dass mittlerweile weniger als jedes fünfte der Mitgliedsunternehmen des BVMW die Corona-Politik der Bundesregierung noch als „gut“ oder „sehr gut“ bewertet.

Um die Unterstützung des Mittelstands und anderer Teile der Gesellschaft nicht weiter aufs Spiel zu setzen, muss die Regierung das Vertrauen in ihre Herangehensweise dringend wieder stärken – und ihre Versprechen einhalten. Dazu gehört es, grundsätzlich zu hinterfragen, ob ein Lockdown in Form einer „Betonplatte“ wirklich der richtige Weg ist.

Friseurbesuche sind genauso machbar wie Kultur-Events

Der Fachbereich Prozesswissenschaften / Gebäudeenergietechnik der TU Berlin liefert hierzu interessante Daten in einer heute veröffentlichten Studie. Demnach besteht beim Friseurbesuch mit einem situationsbedingten R-Faktor von 0,6 das zweitgeringste Ansteckungsrisiko überhaupt. Und dabei gingen die Forscher bereits von einem zweistündigen Aufenthalt im Damensalon aus. Ein noch geringeres Risiko stellen die Wissenschaftler Anne Hartmann und Martin Kriegel nur in Museen, Opern und Theatern fest (0,5), vorausgesetzt sie sind zu 30 Prozent belegt sind und alle Besucher tragen Masken. Steigt die Belegung auf 40 Prozent, sind die Kulturbetriebe immer noch so sicher wie ein Friseursalon. Natürlich geht es den verantwortlichen Pandemie-Planern auch um eine allgemeine Reduzierung der Mobilität: Menschen sollen weitgehend zuhause bleiben, und wenn es sonst nichts zu erleben gibt außerhalb der eigenen vier Wände, und auch noch der Winter mit Minusgraden voll zuschlägt, mag diese Strategie durchaus aufgehen. Aber der Preis ist zu hoch! Zum einen kann ich aus eigener Erfahrung in München sagen, dass die Wahrscheinlichkeit, an einem durchschnittlichen Pandemie-Donnerstag tagsüber im Stau zu stehen, immer noch erstaunlich hoch ist. Das Bewegungsvolumen scheint sich also nicht einfach zu verringern, es verlagert sich vielleicht nur. Erstaunlicherweise kommt die Studie der TU Berlin auch hier zu interessanten Ergebnissen: Eine halbe Stunde in Bus oder Bahn ist mit einem R-Faktor von 0,8 kaum riskanter als ein Haarschnitt – solange ausreichend gelüftet wird und Masken getragen werden.

Berufsausübung verboten, Entschädigung vertagt

Letztlich ist es also vollkommen unfair, einzelne Branchen, bei denen à priori von zusätzlichen, vermeidbaren Bewegungsströmen ausgegangen wird, faktisch mit Berufsverboten zu belegen. Und sie dann noch nicht einmal zeitnah zu entschädigen! Rund 70 Prozent der Mittelständler aus der BVMW-Umfrage geben an, dass die Beantragung und Auszahlung der staatlichen Wirtschaftshilfen viel zu bürokratisch und zu kompliziert ist. In vielen Fällen haben die Unternehmer außerdem nur geringe Anteile ihrer Fixkosten und Umsatzverluste ersetzt bekommen. Rund die Hälfte der betroffenen Unternehmen bemängelt, dass sie länger als vier Wochen auf die beantragten Wirtschaftshilfen warten musste. Bei etwa einem Viertel dauerte es bis zur Auszahlung sogar länger als 12 Wochen – und dies, obwohl viele Existenzen unmittelbar bedroht sind. Viele Einzelschicksale gehen in diesen Tagen durch die Medien: Vom etablierten Gastronomen über den Profi-Pianisten bis hin zur großen Hotelkette wie MotelOne (100 Millionen Euro Verlust bei 50.000 Euro Hilfsleistungen).

Diese Form der Pandemiebekämpfung ist nicht sinnvoll. Derzeit regiert „die Mutante“ und die schiere Angst vor einem weiter um sich greifenden Pandemiegeschehen veranlasst politisch Verantwortliche zu immer weiteren Ausdehnungen bereits monatelang bestehender Einschränkungen. Zugleich sollen aber Schulen ohne bundesweite Koordination wieder geöffnet werden – ein Bereich, zu dem die Forscher der TU Berlin durchaus auch eine klare Meinung haben: In der Schule liegt der situationsbedingte R-Faktor selbst bei halbierten Klassen noch bei 2,9. Wenn ohne Maske gelernt wird, steigt das Risiko sogar auf 5,8. Und wer auf die Idee kommt, in Oberschulen den Unterricht in voller Besetzung ohne Masken zu gestatten, könnte die Schüler bei einem Wert von 11,5 sich auch gleich zur Begrüßung innig umarmen lassen.

Nur differenzierte Konzepte sichern den Gesamterfolg

Nur stark ausdifferenzierte Konzepte, regional angepasste Stufenpläne und insgesamt ein Vorgehen, das mit der Idee der gegenwärtigen Corona-Betonplatte wirklich überhaupt nichts zu tun hat, können uns verträglich durch die weitere Pandemie tragen. Die Frustration in der Bevölkerung ist groß, weil statt realistischer Ziele und dem Feiern des Erreichens immer neue Grenzwerte definiert werden. „35 ist das neue 50“ wirft man sich in diesen Tagen sarkastisch in Deutschland zu. Differenzierte Pläne und moderne Motivations-Konzepte liegen dabei längst vor. Nicht zuletzt die  Verhaltenspsychologie und -ökonomie verfügen über umfangreiche  Forschungsergebnisse in diesem Bereich. Doch ihre Umsetzung erfordert Mut, Entschlossenheit, und vor allem einen Weckruf: Die gesellschaftlichen und monetären Kosten der Corona-„Betonplatte“ kann längst niemand mehr verantworten – außer man vertagt das Thema einfach auf eine viel spätere Zeit im Leben, aber das macht es auch nicht besser.

Die Dauer des Aufenthaltsorts ist nach Ansicht der Forscher übrigens ein zentraler Ansteckungsfaktor: Die Wissenschaftler der TU Berlin haben deshalb für Büros und Schulen die höchsten Risiken berechnet. Fair ist das alles nicht.

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