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Flüchtlinge in Deutschland: „Helfen, aber mit Herz und Verstand“

Im vergangenen Jahr hatte ich die schöne Gelegenheit, Dr. Wolfram Weimer, Herausgeber der Unternehmerzeitung Wirtschaftskurier, ein wenig näher kennenzulernen. Anlass war die Verleihung eines renommierten Innovationspreises – der Dieselmedaille – an seinen Verlag als Auszeichnung für die beste Berichterstattung zu wirtschaftlicher Innovation. Bereits zum zweiten Mal schon wurde Weimer, der auch einmal Chefredakteur des Nachrichtenmagazins Focus war, in diesem Jahr in eine der öffentlich-rechtlichen Talkrunden eingeladen. „Guter Flüchtling – böser Flüchtling“ titelte Maybrit Illner vergangene Woche reißerisch, und reihte sich damit zumindest mit der Überschrift nahtlos in die omnipräsente, bisher stark emotional geführte Mediendebatte zur Flüchtlingsproblematik ein. Dennoch hat mir so gut gefallen, was Wolfram Weimer unter anderem in dieser Talkrunde gesagt hat, dass ich es als Überschrift für dieses Editorial gewählt habe: „Helfen mit Herz UND Verstand“.

Blick zurück: Vom kranken Mann Europas zum Superstar

Deutschland kann nur dann attraktives Einwanderungsland für politisch Verfolgte, aber auch für Menschen auf der Suche nach wirtschaftlicher Verbesserung ihres Lebens bleiben, wenn es weiterhin so erfolgreich und leistungsstark bleibt wie in den vergangenen Jahren. Erinnern wir uns nur ganz kurz an eine Zeit, die nur etwa 15 Jahre her ist: Deutschland war der „kranke Mann Europas“ mit weit über fünf Millionen Arbeitslosen und einer rapide sinkenden Wettbewerbsfähigkeit. Massive Sozialreformen und gewaltige Anstrengungen der deutschen Wirtschaft und damit der Bevölkerung, natürlich wie immer im Leben gepaart mit glücklichen Entwicklungen im europäischen und im Weltmarkt, haben unser Land dorthin gebracht, wo es heute steht. Aus der Sicht vieler anderer Länder der Welt ist Deutschland ein spektakuläres Erfolgsmodell, und in Zeiten von Social Media und fast überall verfügbarem Internet verbreitet sich dieses schillernde Bild rasant in allen Bevölkerungsschichten auf der ganzen Welt.

Vergleichsweise überdurchschnittlich gute Rahmenbedingungen für Asylanten zum Beispiel in punkto Unterbringung und finanzieller Unterstützung machen Deutschland für Abermillionen von Menschen zusätzlich zu einem Symbol für Wohlstand und persönliche und familiäre Zukunft. Daran ändern auch die rechtsradikalen Ausschreitungen der vergangenen Wochen nichts – in der ganz überwiegenden Zahl verhalten sich die deutschen Bürger zutiefst hilfsbereit und vermitteln einen friedlichen, weltoffenen und toleranten Multi-Kulti-Staat. Ulf Poschard schreibt jedoch sehr zutreffend in der WELT vom 4. September: „Aber unser Land kann diesen Zuversichtssog nur dann weiter produzieren, wenn es sein Morgen kühn denkt und plant.“ Nach einigen Wochen einer sehr emotional geführten Debatte, die mir persönlich aufgrund der starken Polarisierung durch einzelne Akteure wenig gefallen hat – Politik muss nun einmal immer die Abwägung von Individualschicksalen und Gemeinwohl ausbalancieren – melden sich nun zum Glück besonnene Stimmen aus dem Sommerurlaub zurück, die einen etwas politischeren Blick auf das bewegende Geschehen vertreten. Wolfram Weimer gehört dazu, aber auch Wolfgang Bosbach und andere.

Blick in die Welt: Staaten versinken im Chaos

Dieser Blick richtet sich auf Fakten wie die Ergebnisse einer Gallup-Umfrage von 2009, nach der 38 Prozent der afrikanischen Bevölkerung schon damals bereit waren, ihren Kontinent zugunsten besserer Lebensverhältnisse zu verlassen: Bereits zum Zeitpunkt der Erhebung waren 165 Millionen Menschen interessiert daran, Afrika zu verlassen. Sechs Jahre später leben auf diesem Kontinent bereits rund 1,2 Milliarden Menschen, politisch verfolgt nach unserer Definition sind von Ihnen „nur“ etwa 14 Prozent.

Dieser Blick sieht auch die Einschätzungen von Experten wie Ulrich Kienzle und Jürgen Todenhöfer – beide mit mehr als 20 Jahren persönlicher Erfahrung im Nahen und Mittleren Osten – die eine Eindämmung der höchst komplexen, von Machtinteressen und religiösen Motiven gleichermaßen geprägten Konflikte in diesen Regionen auf lange Zeit für vollkommen aussichtslos halten. Es sei denn, ein militärisch ausreichend gerüsteter Staat ließe sich auf blutige und verlustreiche Bodenkämpfe ein – eine innenpolitisch utopische Vorstellung für das einzige Land der Welt, das diesen Schlag erfolgreich führen könnte, die USA. Bis dahin zerfallen ganze Staaten im Nahen und mittleren Osten und in Afrika und stürzen in Chaos und Anarchie, unter ihnen Jordanien, Libanon, Afghanistan, Syrien, Irak, Somalia und Eritrea.

Dieser Blick erkennt zuletzt auch den Ukraine-Konflikt, der von einer Lösung und einer Befriedung trotz Minsk-II-Friedensabkommen noch immer beliebig weit entfernt ist und das Potenzial hat, in kurzer Zeit eine neue, große Flüchtlingswelle in Richtung Mitteleuropa zu produzieren. Doch wenn wir diesen vergleichsweise überschaubaren Konflikt, der nur aus zwei politischen Hauptinteressen besteht, in dem darüber hinaus ein uns lange bekannter und bisweilen auch vertrauter russischer Machthaber eine Schlüsselrolle spielt, schon nicht mit Mitteln der Politik beenden können, wie können wir dann mit Zuversicht annehmen, den gesamten Nahen und Mittleren Osten kurzfristig zu stabilisieren? Alle Rufe nach einer internationalen Allianz, die Forderungen nach wachsendem politischem Druck auf den Nato-Partner Türkei, den Waffenempfänger Saudi-Arabien, den Russland-Verbündeten Syrien, die machtlose Arabischen Liga oder andere Akteure in dieser Tragödie erscheinen leider sehr unrealistisch.

Und schließlich richtet sich dieser Blick auch auf die Balkanstaaten und EU-Anwärterstaaten, die – zumindest auf dem Papier – derzeit keine politische Verfolgung betreiben. Die Bevölkerungsgruppe der Roma zum Beispiel wird das ganz anders erleben, und das ist mehr als nur beklagenswert – vor allem vor dem Hintergrund, dass bereits EU-Mittel in Milliardenhöhe zur Integration dieser und anderer benachteiligter Bevölkerungsgruppen bereitgestellt wurden und weiter von den Mitgliedstaaten aufgebracht werden. Doch auch Geld kann nicht alles Leid dieser Welt lösen, und viele Einwohner dieser Staaten fixieren sich deshalb auf das gleiche, hoffnungsvolle Bild von Deutschland, das bereits beschrieben wurde: Anerkennung, Frieden, Wohlstand und persönliche Entwicklung!

Blick nach Europa: Weiter einen Sack Flöhe hüten

Was bleibt uns also anders übrig in dieser vollständig unübersichtlichen Gemengelage, als geordnete und strukturierte politische Antworten zu entwickeln. Das ist keine „Angstmacherei“, die erwähnten Beispiele beruhen auf belastbaren Fakten, die von vielen Experten so auch thematisiert werden. Mindestens 60 Millionen Menschen sind derzeit Angehörige einer weltweiten Migrationsbewegung. Zu diesen Antworten gehört mit Sicherheit ein differenziertes Einwanderungsgesetz für Deutschland, um in der Lage sein, mit rechtsstaatlichen und für alle Menschen nachvollziehbaren Mitteln die Flüchtlings- und Auswanderungsströme schon bei ihrer Entstehung so zu kanalisieren, dass sie unser System nicht völlig überfordern. Durch eine klare Abgrenzung der Behandlung politisch Verfolgter und der von Wirtschaftsflüchtlingen, durch ein Punktesystem und die klare Identifizierung von Mindest-Anforderungen und aktuellem Bedarf am Arbeitsmarkt für letztere. Denn niemand kann ernsthaft erwägen, dass sich die deutsche Nachkriegssituation, in der 12 Millionen Flüchtlinge integriert wurden, tatsächlich auf die heutige Zeit übertragen liesse. Deutschland liegt heute nicht in Trümmern, hier würden aktuell kulturell und wirtschaftlich so verschiedene Welten aufeinanderprallen, dass eine harmonische Integration in der angedeuteten Größenordnung unmöglich gelingen könnte. Bereits im Jahr 2005 betonte Altbundeskanzler Helmut Schmidt, Deutschland habe sich mit seiner Zuwanderungspolitik in den vergangenen 15 Jahren eindeutig übernommen. Wir seien nicht in der Lage gewesen, alle diese Menschen wirklich zu integrieren, sagte Schmidt schon damals. Das Entstehen sozialer Brennpunkte wie Duisburg-Hochfeld (Ausländeranteil über 40 Prozent, 10.000 Menschen leben ohne Krankenversicherung, die Polizei rückt nur noch in starken Verbänden in diese „No-Go-Area“ ein) spricht für diese Einschätzung.

Zu dem Versuch, das kaum Beherrschbare in Bahnen zu lenken, gehört natürlich auch die konsequente Einbeziehung der Europäischen Union. Doch machen wir uns nichts vor: Auch wenn das wenig staatsmännische, zutiefst populistische Handeln eines Viktor Orban aus Ungarn – der sich bisher auch in vielen anderen Fragen der Innen- und Außenpolitik beileibe nicht als Vorzeige-Demokrat geriert hat – sicher nicht den europäischen Maßstab bestimmt, so stehen die Zeichen insgesamt dennoch nicht sehr günstig für eine gemeinsame Flüchtlingspolitik in der EU. Das zeigt die aktuelle Situation in Calais, das belegen starke rechtspopulistische oder zumindest europafeindliche Bewegungen in EU-Staaten wie Frankreich, Großbritannien, Finnland, Schweden und Dänemark. Das illustriert die ablehnende Haltung von Ländern wie Polen, der Tschechei und der Slowakei in der Frage der Aufnahme von Flüchtlingen, die erst am Wochenende wieder auf Ebene der Außenminister bekräftigt wurde. Nicht wenige Experten knüpfen kurz nach der zumindest vorübergehenden Griechenlandrettung schon jetzt die Flüchtlingspolitik erneut an die Frage des Überlebens der Europäischen Union als Ganzes. Im Ergebnis, so ist meine persönliche Einschätzung, wird die EU auch an dieser Frage nicht zerbrechen, denn dafür ist sie einfach politisch und wirtschaftlich zu bedeutend für die in ihr zusammengeschlossenen Länder. Ob jedoch unterm Strich eine Politik beschlossen werden kann, die gleichermaßen zum Wohl der migrierenden Menschen wie auch für die europäischen Staaten ist, muss die Zukunft erst noch zeigen. Denn nicht zuletzt müssen wir dabei natürlich auch die Eigeninteressen der (EU-Anwärter-) Staaten im Auge behalten, die zwar mit der Wirtschaftskraft Deutschlands nicht einmal im Ansatz mithalten können, die aber dennoch ihre Jugend, und damit die Zukunft des jeweiligen Landes und ihre Arbeitskräfte nur höchst ungern in großem Ausmaß an ein Land verlieren wollen, in dem scheinbar Milch und Honig fließen. Im Sinne europäischer Verantwortung muss der Stärkere hier besonders besonnen auftreten, auch in seinem eigenen Interesse.

Blick nach Deutschland: Wie bleiben wir stark?

Denn natürlich ist da auch die Wirtschaft. In einem soeben veröffentlichten Zehnpunkteplan weist beispielsweise Mario Ohoven, Präsident des Bundesverbands mittelständische Wirtschaft (BVMW) und des europäischen Mittelstandsdachverbands European Entrepreneurs auf dringend notwendige Reformen im Asylrecht in Deutschland, aber auch bei der praktischen Umsetzung der Asyl-Statusprüfung und bei der Integration in den Arbeitsmarkt hin. Auch der bayerische Landesverband des BVMW wird sich in den kommenden Wochen und Monaten dafür stark machen, insbesondere unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen, die per Gesetz ein Recht auf sofortige Integration in den Arbeitsmarkt zum Beispiel durch einen Ausbildungsplatz haben, unkompliziert und schnell zu helfen. Aktuell rund 24.000 unbesetzte Ausbildungsplätze in Bayern sollten hier genügend Möglichkeiten bieten. Doch auch hier gilt es, zu bedenken: Politisch Verfolgte, die noch das Grauen des Krieges in Allepo vor Augen haben und aus schierer Not eine 4.000 Kilometer lange Reise über die höchst gefährliche Balkan-Route angetreten sind, kann man nicht von heute auf morgen in den einen anstrengenden und leistungsorientierten Arbeitsmarkt integrieren. Asyl muss immer auch Asyl für die Seele bedeuten und den Betroffenen genug Zeit lassen, das Erlebte zu verarbeiten und hinter sich zu lassen.

Und wir müssen wohl auch lernen, zu differenzieren. Deutschland braucht Einwanderung, aber wir dürfen auch auswählen, wen wir hineinlassen und wen wir hier aktuell gut gebrauchen können. Das gilt zumindest dann, wenn wir die deutsche Wirtschaft konsequent in diese Diskussion einbeziehen. Wie 15 bis 20 Prozent Analphabeten, die sich nach Aussage von Bundesinnenminister de Maizière unter den aktuellen Flüchtlingsströmen befinden, ihren Weg in den deutschen Hightech-Standort finden sollen, erschließt sich mir noch nicht. Experten warnen davor, die selben großen Fehler, die bei der ersten großen Einwanderungswelle in den 50er und 60er Jahre gemacht wurden, in der aktuellen Situation zu wiederholen. Bildungsferne ist nach wie vor die größte Bedrohung für eine erfolgreiche Integration. Der gegenwärtige Zustand der hiesigen Ausbildungssysteme stimmt mich wenig zuversichtlich, dass akut genügend Kapazitäten bereitgestellt werden können.

All diese Aspekte erfordern ein sehr besonnenes weiteres Vorgehen Deutschlands. Nicht in der aktuellen, beispielhaften Hilfsbereitschaft der Bevölkerung, sehr wohl aber in der mittel- und langfristigen Bundes- und Europapolitik. Zum Glück findet das Umdenken bereits statt. Ein vom Bundesministerium für Migration und Flüchtlinge (BAMF) im vergangen Jahr in Auftrag gegebener Imagefilm, der in mehr als acht Sprachen übersetzt einen höchst unkomplizierten und grundsätzlich hoffnungsvollen Verlauf der Asylprüfung in Deutschland beschreibt, wurde in den vergangenen Wochen eiligst durch einen weiteren Film des Bundesinnenministeriums ergänzt: Menschen aus Regionen, in denen keine unmittelbare Bedrohung herrscht, erfahren nun zumindest die harte Wahrheit, dass ihre Ablehnung höchst wahrscheinlich ist und sie unter Umständen auch die Kosten dieses Verfahrens zu tragen haben („Ruinieren Sie nicht sich und Ihre Familie“). Das ist keine PR-Botschaft mit „Sogwirkung“, wenngleich ich nicht glaube, dass es zu den angedrohten Kostenrückforderungen tatsächlich kommt. Aber es ist ein Weg, um das überzeichnete Bild eines gar zu schillernden Landes wieder ein Stück weit gerade zu rücken. Auch hierzulande arbeiten Menschen hart und leidenschaftlich, um sich Ziele, Träume und eine persönliche Zukunft ermöglichen zu können, und längst nicht allen gelingt der Aufstieg. Wer das verschweigt, zeichnet ein unwirkliches Bild von Deutschland.

Ihr

Achim von Michel
Herausgeber mittelstandinbayern.de

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